Postgeschichte ist der Teil der philatelistischen Welt, die sich mit den Eigenschaften des intakten Postguts auseinander setzt. Postgeschichte genügt es nicht, sich mit isolierten Komponenten wie einer aufgeklebten Briefmarke oder einem abgeschlagenem Stempel zu beschäftigen. Postgeschichte wird erst dann interessant, wenn das Gesamtbild aus Frankatur und Stempeln, aus verwendetem Tarif und beschrittenem Leitweg als Ganzes betrachtet werden kann. Noch einen Schritt weiter geht die ‚Social Philately‘, die eine Briefumschlag oder eine Postkarte - auch wenn intakt und komplett - erst einmal als Trägermedium der Nachricht sieht, für die der Brief und die Karte überhaupt geschrieben und versendet wurde.
Joachim Helbig hat in seinem Beitrag zum Thema ‚Wege zur Postgeschichte‘ in der ‚Postgeschichte‘ Nr. 50 vom Mai 1992 postgeschichtliches Sammeln folgendermassen beschrieben:
[Zitat Anfang]
1. Man braucht eine Idee:
Mit dem Entschluss zu einer postgeschichtlichen Sammlung nimmt man gleichzeitig Abschied von den ausgefahrenen Geleisen, die Katalognummern vorgeben. Man muss sich selbst eine Thematik suchen, die Wege zu ihrer Realisierung auskundschaften und überzeugend präsentieren. Kataloge sagen eindeutig, was man braucht, um eine gute Sammlung zu besitzen. Diese Sicherheit bedeutet aber auch Langeweile. Postgeschichte erfordert eigenständige Überlegungen und Anstrengungen, ist aber dafür spannend und interessant. Man muss als Postgeschichtler nicht unbedingt originell sein, man kann sich auch an den Ideen anderer orientieren.
2. Man braucht Informationen:
Mit notwendigen Informationen sind geschichtliche Kenntnisse über die gewählte Periode, vor allem aber Kenntnisse der jeweiligen Postverordnungen und Verträge gemeint. Bei dem heutigen Stand der Forschung gibt es erst einige wenige Bereiche der älteren Postgeschichte, die durch Literatur erschlossen sind. Aber Postgeschichte ist nicht auf das 18. oder 19. Jahrhundert begrenzt. Postgeschichte beginnt sozusagen gestern. Wer sich um die Aufarbeitung der aktuellen postalischen Situation kümmert, erspart sich viele Schwierigkeiten, die bei der Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert auftreten. Diese Probleme resultieren aus den grundlegend anders organisierten Postsystemen. Die Postgeschichte wird verständlich, wenn man die Logik des jeweiligen Postsystems kennt und mit den politisch-geschichtlichen Zusammenhängen verbindet.
Postgeschichtler unterscheiden sich von herkömmlichen Philatelisten eigentlich nur dadurch, dass sie zu ihren Belegen eine (die) Geschichte erzählen.
Die Beschaffung des Informationsmaterials, um diese Geschichte(n) erzählen zu können, ist in der Tat das eigentliche Problem. Die notwendigen Archivmaterialien sind weitgehend noch unerschlossen, Postverträge und Postverordnungen sind erst spärlich veröffentlicht und für den Anfänger nur schwerlich benutzbar. Grundsätzlich gibt es zwei Wege zur postgeschichtlichen «Arbeit»:
den induktiven Weg (vom besonderen Einzelstück auf das Allgemeine schliessen) und
den deduktiven Weg (vom Allgemeinen auf das Einzelstück schliessen).
Es ist unzweifelhaft, dass eine fruchtbare Arbeit nur in einer Kombination beider Wege zustande kommt. Die meisten postgeschichtlich Interessierten befinden sich aber in der Situation, dass sie zwar über Briefmaterial verfügen, aus dem allgemeine Schlüsse gezogen werden könnte, oder einfacher gesagt, mit dem Geschichte(n) (induktiv) erzählt werden könnte(n). Aber dieser Weg ist doch sehr mühsam, zeitraubend und auf Dauer entmutigend. Deshalb ist die Beschaffung von Postverträgen und Postverordnungen (deduktives Material) und deren Aufarbeitung unumgänglich. Ich sehe die Aufgabe der älteren Postgeschichte gerade darin, diese Materialien Zug um Zug bereitzustellen.
[Zitat Ende]
Gehen wir hier mal den induktiven Weg. Dies mögen die nachfolgenden zwei Briefe dokumentierten.
1. Frankatur und Stempel auf einem Brief sagen etwas über den zurückgelegten Weg, die Bedeutung der beteiligten Postämter und damit die lokale Postorganisation aus.
Brief von Someo über Bignasco nach Sornico, alle im oberen Maggiatal im Kanton Tessin gelegen, versandt im November 1866. Die Franaktur mit einer ‚Sitzenden Helvetia‘ wurde entgegen der Bestimmungen mit einem sogenannten Strahlenstempel der Postablage Someo entwertet.
Dieser relativ simple Brief beantwortet eine ganze Reihe von Fragen aus den Gebieten der Tarife und Frankaturen wie auch der Stempelkunde:
Was hat das gekostet? Fünf Rappen betrug der sogenannte Lokaltarif für einen Brief bis 10 Gramm und bis zu einer Entfernung von zwei Wegstunden oder 9,6 Kilometer. Wäre der Brief nicht bis zum Talschluss nach Sornico gegangen, sondern das Tal runter nach Locarno, hätte der Absender zehn Rappen zahlen müssen, den Tarif für die gesamte Schweiz über zwei Wegstunden. Der Tarif war somit entfernungs- und gewichtsabhängig, ein Prinzip das auch heute noch angewendet wird.
Auch bei der zweiten Frage geht es ums liebe Geld. Wer bezahlt denn den Transport? In diesem Fall eines sogenannten Frankobriefes eindeutig der Absender, der die Marke aufgeklebt hat. Im Lokaltarif hätte auch der Empfänger bei Erhalt des Briefes dem Pöstler den Transport mit fünf Rappen bezahlen können. Bei einem solchen Portobrief wäre das Porto also identisch gewesen, unabhängig davon, ob Absender oder Empfänger bezahlt. Bei einem gedachten Brief von Someo nach Locarno aber hätte der Absender zehn Rappen, der Empfänger hingegen 15 Rappen zahlen müssen.
Dies beantwortet direkt die nächste Frage. Wie bezahlt man denn das Porto? Im Voraus mit Briefmarken oder anderen ‚Wertzeichen‘, sei es heute ein Freistempler oder eine nicht physische SMS-Briefmarke, alternativ im Nachhinein mit einem erhöhten Portosatz bar durch den Empfänger.
Die Stempelkunde kommt bei der nächsten Frage ins Spiel. Welche Aussage über die Verarbeitung dieses Briefes kann man aus den abgeschlagenen Stempeln ziehen? Der Strahlenstempel von Someo tägt kein Datum. Rein von der Geographie her muss der Brief von der Postablage Someo stammen, lief auf halbem Wege durch das ‚richtige‘ Postamt Bignasco, das auch einen Datumsstempel hatte, hoch bis nach Sornico. Die unterschiedlichen Typen von Stempeln spiegeln auch die unterschiedliche Funktion der Poststellen wieder. Die Postablage Someo hat die Briefmarke verkaufen dürfen und hätte seine Strahlenstempel eigentlich nur neben die Marke setzen dürfen, um klar zu machen, woher der Brief stammt. Die eigentliche Verarbeitung und Entwertung des Briefmarke hätte erst im ‚richtigen‘ Postamt in Bignasco stattfinden dürfen.
Kommen wir zur Frage des eingeschlagenen Weges. Was sagt dieser Brief über den Weg aus? Der Weg in einem Tal ist klar definiert, ohne Alternative und damit nicht sehr spannend.
2. Frankatur und Stempel auf einem Brief sagen etwas über den zurückgelegten Weg, die beteiligten Postverwaltungen und deren Anteil an dem bezahlten Porto aus.
Brief mit sogenanntem P.P. Teilfranko von Zürich über Calais & Liverpool nach New York, versandt im November 1856.
Anders als beim ersten Brief steht hier zunächst folgende Frage im Vordergrund: Was sagt dieser Brief über den Weg aus? Bei einem Brief aus der Schweiz über den Atlantik gibt es hier natürlich mehrere Optionen, die im Jahr 1856 als Übereinkunft der verschiedenen möglichen Postverwaltungen in Postverträgen definiert werden mussten. Gewählt wurde der Weg über Frankreich, diese Übergabe von der schweizerischen an die französische Postverwaltung wird durch den französischen Grenzübergangsstempel „SUISSE St. LOUIS“ dokumentiert, der weitere Weg wird dann nicht durch einen Stempel, sondern den sogenannten handschriftlichen Leitvermerk „via Liverpool“ festgelegt. Mit britischem Schiff ging es nach New York.
Und wer bezahlte das alles? Bei einem Weg aus der Schweiz über Frankreich und mit einem britischen Schiff in die USA waren also vier Postverwaltungen involviert und jede wollte für ihre Dienste bezahlt werden. Obwohl sich auf dem Brief drei Freimarken der sogenannten Strubel-Ausgabe im Wert von 135 Rappen finden, reichte dies nicht aus, um als vollständiger Frankobrief komplett bis zum Empfänger bezahlt zu werden. Es handelt sich um einen sogenannten Teilfrankobrief. Der Absender zahlte das Porto so weit, wie es ihm die Postverträge der Schweiz mit Frankreich und dessen Postverträge mit England erlaubten, nämlich bis zu dem Hafen, in dem das britische Schiff anlegte, hier also New York. Bis zum Hafen von New York haben wir also einen vorausbezahlten Frankobrief vor uns, für das Stück vom Hafen zum Empfänger musste dieser 5 Cents bezahlen, das amerikanische Inlandsporto. Auf diesem Stück haben wir also einen Portobrief vor uns.
Wie wussten die verschiedenen Postverwaltungen welche Anteile des Transports bereits bezahlt waren? Der schweizer Postbeamte in Zürich kassierte vom Absender im Voraus das Porto bis zum Hafen in New York. Jetzt musste er nur seinen Kollegen in Frankreich, Grossbritannien und den USA klar machen, das er das Geld schon bekommen hat und das sie es nicht nochmal vom Empfänger einkassieren. Er markierte dies mit einem sogenannten Nebenstempel, also einem Stempel, der keine Information über einen Ort oder ein Datum enthielt, sondern eine Anweisung zur Behandlung oder Abrechnung darstellt. In diesem Falle sind es die Stempel PD im Kästchen (unter der ‚5‘) und PP. Der PD-Stempel wurde zunächst fälschlicher weise abgeschlagen, denn er besagt, dass der Absender den Brief komplett franko bis zum Empfänger gezahlt hat. Er wurde durch den Stempel PP ersetzt, also Bezahlung bis zum Hafen.
Wie wurden die Portoanteile für die verschiedenen Postverwaltungen abgerechnet? Bei einem zumindestens teilweise vorausbezahltem Brief kassierte jede Postverwaltung ihren Teil und gab den Rest des Portos an die nächste Postverwaltung weiter. Die Schweiz behielt ihren Teil und gab an Frankreich die Anteile für Frankreich und England weiter, Frankreich gab an England dessen Teil mit dem Brief weiter. Bei einem unbezahlten Portobrief wäre es genau umgekehrt gelaufen. Die Schweiz hätte den Brief an Frankreich ‚verkauft‘ und von dort ihren Anteil erhalten, Frankreich hätte diesen Anteil zu seinem Anteil addiert und zusammen von England bekommen und so weiter bis zum Empfänger, der die aufadierten Anteile aller bisherigen Postverwaltung plus dem amerikanischen Inlandsporto an die amerikanische Post zahlen musste.
Welche interessanten Stempel gibt es denn noch auf diesem Brief? Im Hafen von New York fand der Wechsel vom Franko- zum Portobrief statt und ein genialer amerikanischen Stempel dokumentiert dies, wobei er gleich vier Informationen enthielt: Wo wurde er abgeschlagen (N. YORK), wie kam der Brief an (BR. PKT., also britisches Schiff), wann kam er an (DEC 12) und was kriegen wir noch vom Empfänger (‚5‘ cents). Wir sehen also eine Kombination aus Datumsstempel, Routenstempel und Taxierungsstempel. Es gibt aber noch eine anderen, eher unauffälligen Unterschied zum ersten Brief. Das ist der sogenannte Entwertungsstempel, die eidgenössische Raute, der keinen Informationsgehalt besass, er sollte nur die Freimarken entwerten. Derartige Stempel finden sich bei Postverwaltungen weltweit bis in die 1860er Jahre.
Diese beiden Briefe zeigen, warum Postgeschichte so faszinierend ist. Die Marken auf den Briefen alleine wie auch die Stempelabschläge haben nahezu keine Aussagekraft. Erst der intakte, komplette Brief kann eine derart interessante Geschichte erzählen, wie diese beiden Briefe es tun. Und es bleibt völlig dem Sammler überlassen, ob ihn mehr die tessiner Täler oder die Dampfer auf dem Atlantik fesseln, oder ob er mehr auf die Tarife und ihre Abhängigkeit von der Reiseroute und damit wiederum deren Abhängigkeit von den zeitgenössischen Transportmöglichkeiten fokussieren will, sei es die Postkutsche, die Eisenbahn oder das Dampfschiff. Jeder nach seinem Geschmack.
Dem ganzen kann man noch mit einem ‚Social Philately‘ eins draufsetzen. Der Brief ging nämlich von Zürich an die Firma von Alfred Escher (1819-1882), einem bekannten schweizer Politiker und wahrscheinlich dem bedeutendsten schweizerischen Wirtschaftsführer seiner Zeit.