„Ratgeber" für Ganzsachensammler (II)

4. Sind alle Ganzsachen mit Wertstempel Postwertzeichen im engeren Sinne?

Dr. Ascher: Nein. Es gibt postalische Formulare, die zwar einen Wertstempel tragen, der aber nicht den Entgelt für die Beförderung, sondern nur die Kosten oder die Gebühr für das Formular darstellt, z.B. Postscheine von Braunschweig, der Schweiz, Serbien, Paketkarten von Serbien usw. Vielfach stellen sie auch eine Stempelgebühr dar; z.B. bei den Paketkarten und anderen Formularen von Österreich und Ungarn, gewissen Formularen von Italien usw.

Hürlimann: Auf die schweizerischen Empfangsscheine (Abb. 1), die von 1899 bis 1916 einen Wertstempel zu 5 Rp. trugen, der nur die Formulargebühr deckte, weist Dr. Ascher speziell hin


Abb. 1: Schweiz. Empfangsschein 1906. Der Wertstempel deckt einzig die Formulargebühr

5. Was versteht man unter „Privatganzsachen"?

Dr. Ascher: Der Ausdruck ist ungenau. Es sind hiermit von der Privatindustrie hergestellte Formulare aller Art gemeint, die von der Staatsdruckerei mit einem Wertstempel bedruckt worden sind. Dies wurde zuerst 1855 in England eingeführt, wo seit dieser Zeit Umschläge mit dem Wertstempel zu l Penny, später mit vielen ändern Werten - auch mit 2 und mehr Wertstempeln - bedruckt wurden. In Deutschland wurden ab 1873 Umschläge, Streifbänder und Karten dieser Art bedruckt, Österreich, Bayern, Württemberg und andere folgten später.

Hürlimann: In der Schweiz bedrucken die PTT-Betriebe seit 1907 vom Auftraggeber gelieferte Briefumschläge, Karten, Adresszettel usw. mit Postwertzeichen, wobei wenigstens 250 Stück (anfänglich 500 Stück) je Gattung und Taxwert zu bestellen sind (Abb. 2). Bis 1930 erfolgte dieser Aufdruck mit den Wertstempeln der entsprechenden Briefmarken (Kreuz/Wertziffer, Tellknabe, Helvetia-Brustbild, Sitzende Helvetia, Teilkopf, ausnahmsweise auch mit Flugpostmarken), seither mit Frankiermaschinen mit eine besonderen Frankozeichen. Letztere werden von den Sammlern, obwohl philatelistisch den Wertstempeln gleichwertig, kaum beachtet. In Deutschland, wo noch immer Wertstempel auf private Bestellung angebracht werden, wird das Gebiet der Privatganzsachen von Spekulanten und — leider auch - philatelistischen Organisationen, die alljährlich Hunderte von Neuschöpfungen auf den Markt werfen, zu Tode geritten.

6. Soll man diese Privatsachen sammeln?

Dr. Ascher: Sicherlich, aber mit Beschränkung. Da das Papier von privater Seite eingeliefert wurde, so waren diese Umschläge usw. ausserordentlich verschieden nach Farbe, Grosse, Schnitt, Vordruck usw. Der Generalsammler, besonders der Anfänger, beachte nur den Wertstempel und nehme nur ein Stück jeder Art auf. Der Spezialsammler dagegen wird diese Ganzsachen - besonders die älteren - gern nach allen Unterschieden sammeln.

Hürlimann: Was an neuen Privatganzsachen — speziell aus Deutschland — den ahnungslosen Sammlern untergejubelt wird, ist philatelistisch bedeutungslos und kann bedenkenlos links liegengelassen werden; wenn es Briefmarken wären, fielen sie samt und sonders unter die von der FIP als unerwünscht bzw. schädlich bezeichneten Ausgaben


Abb 2: Schweiz. Bericht 1907/08 Luzern. Jahresbericht und Einladung zur Generalversammlung desAllgem. Consumvereins Luzern.

7. Soll man auch Post-Formulare ohne Wertstempel sammeln?

Dr. Ascher: Ja, aber man soll sich auf diejenigen Formulare beschränken, die für den Gebrauch des Publikums bestimmt sind. Hier gibt es sehr viel Interessantes: Die Vorläufer der Postkarten: Norddeutscher Postbezirk, Baden, Elsass-Lothringen usw. Postanweisungen, besonders der altdeutschen Staaten. Postscheine, deren ältester bekannter aus 1726 stammt, Paketkarten, Telegraphenformulare. Hier kann auch ein Sammler mit geringen Mitteln sich eine schöne Spezialsammlung ausbauen. Fortlassen soll man aber die Formulare des inneren Postdienstes, da man unter deren Fülle erdrückt würde.

Hürlimann: In der Zwischenzeit wurde ein noch älterer Postschein Altdeutschlands gefunden: dieser älteste gedruckte Schein aus Preussen stammt aus dem Jahre 1709. Der älteste gedruckte Postschein in der Schweiz wurde aus Zürich bekannt (l761). 
Einige schweizerische Ganzsachengattungen wurden anfänglich als Formulare ausgegeben (Postanweisungen 1861, Einzugsmandante 1884, Empfangsschein der Bundespost 1850), dann aber gelangten sie mit Wertstempeln an die Postschalter, um einige Jahre vor oder nach der Jahrhundertwende wieder als Formulare bis auf den heutigen Tag weiterzuleben. Die posthistorische Entwicklung kann deshalb mit Einbezug von Formularen aufs prächtigste dargestellt werden. (Abb. 3)


Abb. 3   Schweiz. Geldanweisung 1862. Die ersten Postanweisungen der Schweiz wurden 1862 als Briefumschläge auf grünem Papier ohne Wertstempel ausgegeben. In Kartenform mit Wertstempeleindruck erschienen Postanweisungen fünf Jahre später

8. Was für Arten von Ganzsachen gibt es und wie alt sind sie?

Dr. Ascher: Die Ganzsachen sind älter als die Briefmarken. Man kann sie in folgende Gruppen einteilen: 

A. Briefbogen 

  • a) Wertstempelohne Wertangabe (NewSüd-Wales 1838) 
  • bj Mit Wertangabe(England(Mulready) 1840). 
  • c) Für Rohrpostverkehr (Österreich 1875). 

B. Briefumschläge 

  • a) Für gewöhnliche Briefe (England (Mulready) 1840). 
  • b) Für eingeschriebene Briefe (England 1878). 
  • c) Dienstbriefumschläge (Vereinigte Staaten 1873). 
  • d) Postanweisungsbriefumschläge Württemberg 1867). 
  • e) Postanweisungsdienstumschläge (Württemberg 1881). 
  • f) Postauftragsumschläge (Schweiz 1875).
  • g) Rohrpostverkehr (Österreich 1875).

C. Streifbänder 

  • a) Zum Einschlagen der Drucksache (Vereinigte Staaten 1860). 
  • b) Zum Aufkleben auf die Drucksache (Adresszettel) Österreich 1904). 
  • c) Wie a, für den Dienstverkehr ( Vereinigte Staaten 1873).

D. Kartenbriefe 

  • a) Einfache Kartenbriefe (Belgien 1882). 
  • b) Kartenbriefe mit Antwort (Argentinien 1888). 
  • c) für Rohrpostverkehr (Frankreich 1884). 
  • d) Dgl. mit Antwort (Gutschein) (Frankreich 1884). 
  • e) Umschlagbriefe (Belgien 1888). 
  • f) Telegraphenkartenbriefe (Ungarn 1888). 
  • g) Dienstkartenbriefe (Argentinien).

E. Postkarten 

  • a) Einfache Karten (Österreich 1869). 
  • b) Karten mit Antwort (Württemberg, Niederlande 1872). 
  • c) Dienstpostkarten (Dänemark 1871). 
  • d) Drucksachekarten (Württemberg 1872). 
  • e) Rohrpostkarten (Deutsches Reich 1876).

F. Verschiedenes 

  • a) Postanweisungen (Braunschweig, Hannover 1865). 
  • b) Geldpostkarten auf feste Beträge (Italien 1890). 
  • c) Postschecks (Postbons) auf feste Beträge (England). 
  • d) Zeitungs-Postanweisungen (Österreich 1905). 
  • e) Steuer-Postanweisungen (Österreich 1882). POSTGESCHICHTE HISTOIRE POSTALE POSTAL HISTORY Fach-Zeitschrift für den Brief- und Stempelsammler 
  • f) Postnachnahmekarten (Ungarn 1870). 
  • g) Postauftragskarten (Österreich 1914). 
  • h) Paketkarten (Württemberg 1870). 
  • i) Dienst-Paketkarten (Württemberg 1877). 
  • k) Paketbelustigungskarten (Belgien 1897). 
  • l) Geldversicherungsscheine (Kolumbien 1865). 
  • m)Postaufgabescheine (Braunschweig).

Hürlimann: Unter A) Briefbogen, sind Faltbriefe zu verstehen, wie sie bei vorphilatelistischen Briefen vor 1850 die Regel waren. Diese Bezeichnung wird heute kaum noch verwendet, sondern ist durch „Faltbrief" ersetzt worden. Ein moderner Faltbrief, von Dr. Ascher vor 60 Jahren nicht vorauszusehen, ist das Aerogramm, das auf der Liste nachzutragen wäre.

9. Was sind Telegraphenganzsachen?

Dr. Ascher: In manchen Ländern tragen die Telegraphenformulare, sowohl die zur Aufnahme wie die zum Abtragen bestimmten, einen Wertstempel. Dieser stellt entweder den Preis für das Formular dar (Österreich, Ungarn, Serbien usw.) oder aber er entspricht den Kosten für das kleinste zulässige Telegramm (z.B. England) und Kolonien, ungarische und argentinische Telegraphenkartenbriefe). Bei letzteren enthält der Wertstempel auch noch die Beförderungsgebühr des Telegramms vom Postamt zur nächsten Telegraphenstation.

Hürlimann: Das stimmt noch heute, wenn uns Telegrafenganzsachen in der Schweiz auch nicht bekannt sind.

 

© Schweizerische Vereinigung für Postgeschichte / SVPg