Bedarfspost und Abarten
Die wachsende Flut von Neuausgaben, Ersttags- und Sonderumschlägen, Numisbriefen, Maximumkarten und dergleichen - wobei leider auch die Postverwaltungen kräftig mitmischen - zwingen manchen Sammler, sich auf die ursprüngliche Philatelie zu besinnen. Rückläufige Verkaufszahlen sind ein Indiz, dass es nicht ständig so weitergehen kann. Heutzutage ist es gar nicht mehr so einfach, gegen den Strom zu schwimmen und zu versuchen, die Spreu vom Weizen zu unterscheiden. Alle Achtung vor Sammlern, die nur portogerecht frankierte Bedarfspost in ihre Sammlung aufnehmen. Die Schwierigkeiten sind hier nicht zu unterschätzen: einerseits verstärkte sich in den letzten Jahren die Tendenz zum Sammeln von Ganzstücken (man will nicht nur Einzelmarken, sondern postalische Dokumente in seiner Sammlung haben), so dass auch scheinbar belanglose Marken auf echt gelaufenen, sammelwürdigen Briefen kaum aufzutreiben sind. Andererseits ist es manchmal oft sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Bedarfspost von «philatelistischer Frankatur»1' zu unterscheiden, wie im folgenden gezeigt wird. Als Faustregel kann etwa gelten: je älter ein Brief ist, umso wahrscheinlicher ist seine rein postalische Verwendung. Bei Sonder- und Gedenkmarken mit und ohne Zuschlag, Flugpost sowie auch bei Abarten ist die Versuchung zur Anfertigung von «gemachten Briefen» grösser als bei gewöhnlichen Freimarken. 1) Vgl. auch die Artikelfolge «Frankaturen, ihre Bedeutung und Bezeichnung in der Philatelie» von Georg Winkler; über «philatelistische Frankaturen» in Nr. 27/28 Seiten 34/35. Sehen wir uns einmal einen Brief an, den ein Vater während des 1. Weltkrieges an seine in Deutschland weilenden Söhne gesandt hat: die Frankatur von 25 Rp., bestehend aus einer roten 10 Rp.-Marke mit Teilbrustbild in der seltenen Type I und einer solchen mit der gewöhnlichen Type II nebst einem grünen Tellenbuben 5 Rp. ist portogerecht für einen Auslandsbrief. Der rückseitige Zensurstempel ist bestimmt echt, und ein Wellenstempel macht die Sache noch unverdächtiger. Nur, zufälligerweise weiss ich, dass der Absender ein Markensammler war. Also doch eine beabsichtigte «philatelistische Frankatur»? (Abb. 1) Wie sieht die Sache nun eigentlich bei dem beliebten Sammelgebiet der Abarten aus? Bei älteren Marken spielt eher der Zufall eine Rolle, ob ein Ganzstück mit einer Abart als Frankatur erhalten geblieben ist, wie bei der Rayonmarke mit dem Posthorn mit fehlendem Mundstück (Abb. 2). An den Anfang einer Rollenmarken-Sammlung möchte man den Brief mit der im Markenbild getrennten roten 20 Rp.-Marke mit Tellbrustbild stellen, einer der ersten Marken, die als Automaten-Marke Verwendung fand; er ist bestimmt goldecht (Abb. 3), im Gegensatz zu viel heutiger «Produktion» auf diesem Gebiet. Eine grössere Wahrscheinlichkeit rein postalischer Verwendung haben Geschäftsbriefe (Abb. 4 und 5): Die Aufdruckabart «202» trägt einen Vollstempel, während der Flaggenstempel auf dem ändern Brief den Teil ohne Gesicht gar nicht berührt. Der hübsche Brief mit den vier Marken mit bis in die Mitte verschobenem Aufdruck hat alle Anzeichen eines Bedarfsbriefes (Abb. 6).


verschiebungen, Verzahnung der Marken und dergleichen die postalische Verwendung nicht immer gesichert. Geraten solche Marken in Sammlerhände, kann man kaum mehr mit Bestimmtheit sagen, ob die Marke mit der Abart zuvor am Schalter verkauft wurde, oder aber auf krummen Wegen zu ihrem Besitzer gelangte. Meistens ist teils ... teils ... die richtige Antwort. So hätte ein Philatelist die stark verzahnten Marken der letzten Ausgabe mit dem Schloss Chillon kaum (?) auf diese Art aufgeklebt (Abb. 7); doch gibt es von derselben Zähnungsabart Briefe, die eher nach «gemacht» aussehen. Fazit: Aus den angeführten Beispielen lässt sich der Schluss ziehen, dass es bei neueren Ganzstücken sehr schwierig, wenn nicht z.T. unmöglich ist, Bedarfspost als solche zu identifizieren. Es bleibt dem persönlichen Geschmack eines jeden Sammlers überlassen, wie weit er mit dem Sammeln «philatelistischer Frankaturen» gehen will. Ganz darum herumkommen wird kaum jemand, ganz einfach darum, weil es oft an sicheren Beweisen fehlt. Nachwort der Redaktion: Bei den Freioder Dauermarken erlaubt auch die Kenntnis der Zeitspanne der Bedarfsverwendung oftmals (nicht immer!), die Spreu vom Weizen zu trennen: Bei Daten innerhalb der Zeitspanne ist Bedarf als wahrscheinlich anzunehmen, ausserhalb (später, vor allem viel später) ist hingegen die Wahrscheinlichkeit gross, dass eine Sammlerhand nachgeholfen hat. Angaben über diese Zeitspannen der Ausgaben Teil und Helvetia, etc. der Jahre 1907- 42 finden Sie in der Artikelfolge «Frühdaten und Verwendungszeiten der Freimarken ab 1907».